Beschwipst von vier eiskalten Bieren, die ohne übertreiben zu wollen ohne weiteres ein Jahr hätten alt sein können, so kalt waren diese gewesen, saß ich mit einem Kissen im Rücken auf meinem Zwei-Mann-Bett und las mit ruhiger Stimme das letzte Kapitel von Murakamis Meisterwerk Naokos Lächeln vor. Ich weiß nicht, ob ich ein guter Vorleser bin und ehrlich gesagt werde ich, wenn ich darüber nachdenke, immer etwas unsicher, dennoch wurde meine Art des Vortragens nicht kritisiert (man beachte, ich hatte bereits vier Bier getrunken) und so fuhr ich mit einem Lächeln auf den Lippen fort. Doch schon nach den ersten Worten, wich mein Lächeln und Trauer legte sich in meine Züge. Meine Stimme fing an zu zittern und ich quälte mich geradezu durch das letzte Kapitel. Das soll nicht heißen, dass es ein schlechtes Kapitel war. Nein, es hatte mich nur tief berührt und ließ mich kopfüber in ein Meer aus Melancholie abtauchen. Ein drückendes Gefühl der Schwere schlich sich beim Lesen in meine Brust und ich musste, dem Gefühl sei Dank (oder auch nicht), an die Nacht zurückdenken, in der mein Vater mir vom Tode meiner geliebten Großmutter berichtet hatte. Sie sei ruhig eingeschlafen, sagte er mir. Die nüchterne Art, mit der er von ihrem Tod sprach, verstörte mich zutiefst und so zog ich mich in mein Zimmer zurück und trauerte im Stillen – so sieht zumindest meine Erinnerung an diesen Abend aus. Auch damals war ich angetrunken gewesen. Ich hob den Kopf und lauschte einen Augenblick lang der Stimme Michael Jacksons, die aus den Boxen meines Radios (ein Geschenk eben jener Großmutter) drang. Würde ich mein Ohr ganz nah an der Kassettenklappe halten, könnte ich vielleicht das leichte Kratzen des Tonkopfes auf dem Magnetband vernehmen, doch dazu fehlte mir bei Leibe die Muse; zumal ich auch das Buch zu Ende lesen wollte. Also erhob ich meine Stimme wieder und fuhr fort.
Toru, der Icherzähler des Romans, ertrank derweil in seiner Trauer und seinem Whiskeyrausch. Nach gut zwei Wochen (ich denke, es waren zwei) kam er zu dem Schluss, dass er so nicht weitermachen konnte und ging zurück nach Tokio. Dort traf er eine Bekannte und wie der unberechenbare Aprilwind schlug meine Stimmung schlagartig um. Ein Glimmer entzündete sich in meinen Lenden und ich hätte mich zu gerne einer Frau hingegeben, doch das Buch wollte noch zu Ende gelesen werden. Den plötzlichen Drang unterdrückend, fuhr ich fort und legte, nachdem ich das Buch beendet hatte, seufzend zur Seite. Die Lektüre hatte mich durchweg gesättigt. Ich glaubte, als das Buch auf meinem Schoss ruhte, dass ich die nächsten Wochen kein Buch mehr lesen könnte, oder lesen musste. Nur wenige Bücher hatten mich nach ihrer Beendigung mit einem solchen Gefühl der Sättigung alleine gelassen. Der Große Gatsby, der in dem Roman Erwähnung findet und das Buch Diesseits vom Paradies gehören definitiv dazu. Wie Gatsby am Ufer gestanden hatte und sich wehmütig nach seiner verlorenen Liebe sehnte, lag ich in meinem Bett und starrte an die Decke. Meine Gedanken wandern, während ich diese Zeilen schreibe, hin zu seinem Tod und ich seufze mitfühlend.
Gatsby ist einer jener Gestalten, die einen einfach nur leidtun kann. Er war ein junger Millionär, der trotz der Tatsache, dass er sich mit zahlreichen betuchten Menschen umgeben hatte, tief in seinem Herzen einsam war. Er sehnte sich nach seiner großen Liebe Daisy, die, als er im Ersten Weltkrieg gekämpft hatte, einen anderen geheiratet und eine Tochter geboren hatte. Im Laufe der Handlung treffen Gatsby und sie wieder aufeinander. Ein Zwiespalt schleicht sich in Daisys Herz und bis zu dem tragischen Autounfall, der zu Gatsbys Tod führen würde, weiß sie nicht, zu welchem Mann sie wirklich gehört. Am Ende entscheidet sie sich für ihren Mann und lässt Gatsby selbst im Tode alleine.
Ich seufze und versuche die Bilder von Gatsbys Beerdigung aus meinem Kopf zu verbannen; schließlich wollte ich doch über Haruki Murakamis Meisterwerk Naokos Lächeln schreiben und nicht über den Tod von Jay Gatsby. Toru Watanabe, der Erzähler der Geschichte, entführt den Leser in die 1960er Jahre. Toru ist ein Mensch, der nie viele Freunde in seinem Leben gehabt hatte. Einer der wenigen, die er wirklich als ein Freund bezeichnen konnte, war ein Junge namens Kizuki. Sie waren Klassenkameraden und verbrachten viel Zeit gemeinsam, wobei Toru schließlich Kizukis Freundin Naoko kennenlernte. Zu dritt verbrachten sie das Ende ihrer Kindheit, bis Kizuki sich schließlich im Alter von siebzehn Jahren das Leben nahm. Traumatisiert wie sie nun einmal waren, verloren sich Naoko und Toru aus den Augen und sollten sich erst in Tokio in einer U-Bahn wiedersehen. Es folgen zahlreiche Sonntage an denen sie schweigend spazieren gehen. Und dann Knack Peng bei Naoko brennt eine Sicherung durch und das unverarbeitete Trauma um Kizukis Suizid stürzt sie in tiefe Verzweiflung.
An dieser Stelle lasse ich die Handlung einfach mal ruhen, denn ich möchte ja auch nicht zu viel verraten, sollte einer von euch das Buch noch lesen wollen. Stattdessen will ich etwas zu Murakamis Schreibstil sagen, den ich wirklich klasse finde. In meinen Augen schreibt Murakami ziemlich direkt. Er schweift nicht unnötig ab und zieht somit die Erzählung auch nicht unnötig in die Länge. Wo andere Autoren jede Kleinigkeit beschreiben (wie einen Toyota Corolla), hängt Murakami sich nicht an solchen Beschreibungen auf, wodurch die Erzählzeit der Handlung nicht in die Länge gezogen wird. Daraus resultiert, dass Erzählzeit und erzählte Zeit annähernd gleich bleiben und der Erzählfluss angenehm dahinplätschert. Durch den direkten Schreibstil kann der Leser seiner Fantasie freien Lauf lassen und sich ohne Probleme in der Geschichte um Toru verlieren. In dem Roman wird neben der Liebe und dem Tod auch der Geschlechtsakt zwischen zwei Menschen geschildert. Durch die direkte Art wirkt dieser ungezwungen und nicht kitschig. Es störte mich beim Lesen kein einziges Mal, so etwas zu lesen; es gefiel mir sogar, da es einfach zu der Handlung gehört und nicht störend auffällt.
Als ich anfing Murakami zu lesen, hatte ich die Kommentare zu seinen Werken, die ihn als den besten zeitgenössischen japanischen Autoren preisten, oder seine Werke als Meisterwerke titulierten, für ziemlich hochgegriffen gehalten. Nach 1Q84 Band 1 bis 3 und Naokos Lächeln kann ich dem aber nur beipflichten und inzwischen ist der durchaus sympathische Murakami (sympathisch wegen seinem Sachbuch „Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede“) einer meiner liebsten zeitgenössischen Autoren. Wie eine Perle sticht er aus einem Meer vom nutzlosen Plunder heraus. Gerade in unserer modernen Zeit werden die Buchhandlungen von einer gewaltigen Flut an Büchern erschlagen, von der man ich ohne zu zögern, 95% verbrennen oder in einem dunklen Keller lagern würde. Wenn ein Thema bei einer bestimmten Zielgruppe gut ankommt, ein Beispiel sei einmal die Twilight-Saga, dann wird der gesamte Buchmarkt von einer gewaltigen Masse schlechter Vampirromanzen erschlagen. Wenn ich in einer Buchhandlung stehe und sehe, dass es eine eigene Abteilung für Vampirromanzen gibt, dann wird mir schlecht und es schüttelt mich. Oft sind es lieblose Werke, die einfach nur verfasst wurden, um auf den Erfolgszug (hier die Twilight-Saga) aufzuspringen und Geld zu verdienen. Kunst des Geldes Willen ist für mich keine Kunst und so finde ich auch keinen Spaß an solchen Lektüren, die gewiss nicht schlecht sein müssen. Da bin ich wirklich froh, dass es noch Autoren wie Murakami gibt, die noch Stil haben und nicht dem Sumpf des Gemeindebrei (was für ein Wort) entspringen.
Wer nichts gegen einen tollen Liebesroman, der neben der Liebe und der Sexualität auch noch den Tod und zwischenmenschliche Abgründe thematisiert hat, dem lege ich Naokos Lächeln wärmstens ans Herz. Und selbst wenn ihr Liebesromane nicht mögt (ich störe mich an der Bezeichnung Liebesroman, da das Buch fiel mehr als das ist), solltet ihr es lesen, denn es ist wirklich gut. Gewiss ist das nur meine subjektive Wahrnehmung, aber mich können nur wenige Bücher dermaßen überzeugen und Naokos Lächeln lohnt sich allemal zu lesen.
Soviel dazu.
(Hab mir gerade die Vorschau dieses Beitrages angesehen und muss schon sagen, was ist das bloß für eine Wall-of-Text, die ich da gerade verfasst habe. :XD:)