Nusma, ich möchte an dieser Stelle gerne noch mal auf Deinen Beitrag eingehen :3
Du hast da einige durchaus interessante, aber auch augenscheinlich krasse Überlegungen geäußert - nicht nur, dass diese schnell missverstanden werden können (warum erinnert mich all das hier grad bloß ein wenig an die Böhmermann-Debatte?), wenn man sie nicht als bloße Überlegung begreift. Ich bin mir auch nicht sicher, ob man das einfach so unterschreiben kann - das hast du ja auch nicht vorausgesetzt, aber hey, spinnen wir diese Gedanken doch einmal weiter.
Im Grunde sagst du ja, es sei nicht zwangsläufig ausschlaggebend, für welchen Weg man sich - in diesem Kontext - entscheidet, sondern letztlich viel mehr, wie man es vor sich selbst rechtfertigt. Und ob man es überhaupt tut. Gründlich. Kritisch. Und nicht bloß seicht oder halbherzig. Oder noch schlimmer: gar nicht.
Dieser Ansatz ist so gesehen erstmal ein sehr gründlich, augenscheinlich ehrlicher.
Ich frage mich in dem Zusammenhang allerdings, wie schnell so ein Ansatz nicht zu imperativ wird?
Hier hast du ja mal das Gedankenexperiment einer...nennen wir sie mal vorsichtig, Fleischfresserprüfung angeführt:
Zitat
Original von Nusma
Obwohl ich selbst noch nichts Vergleichbares erlebt habe, stelle ich es mir interessant vor, wenn jeder, der sich dazu entschließt, Fleisch essen zu wollen, zuerst eine Art Prüfung bestehen muss. Er bekommt ein Messer in die Hand gedrückt und muss nun ein gefesseltes Tier eigenhändig töten und zerlegen. Erst wenn er sich dem flehenden Blick der Kuh (besser noch des Kalbs) gestellt hat, ihre Schmerzensschreie über sich hat ergehen lassen, gespürt hat, wie ihre Wärme entweicht... ja, dann hat er den Preis seines Gewissens gezahlt. Er ist sich der Tragweite seines Handelns nun vollständig bewusst und kann sich diesem Wissen nicht mehr entziehen, wenn er fortan Fleisch kauft. Egal ob gut oder schlecht, Moral ist ja bekanntlich rein subjektiv, er hat sich der unbequemen Wahrheit gestellt und hat das Recht und das nötige Wissen, sich zu entscheiden.
Wer nicht bereit ist, sich darauf einzulassen, der wird sich mit vegetarischen Alternativen begnügen müssen.
... das wäre doch mal was. ^^
Im ersten Moment mag man sich bei so einer Vorstellung vielleicht denkt: Woah. Das ist zwar grausam und viele Leute würden das vielleicht gar nicht über sich bringen, aber sehr wahrscheinlich wäre das effektiv.
Und ja, es wäre eine direkte Konfrontation mit einem der Kernkonflikte dieses Themas.
Ja, vielleicht hätte es sogar zum Erfolg, dass manch einer sich vom Fleisch-Konsum endgültig abweden würde: Konfrontiert, geläutert, verändert.
Und dann?
Mir ist es zum einen zu einfach - zum anderen aber auch nicht weitgreifend anwendbar - und nicht zuletzt auch nicht vertretbar.
Ich weiß, du meintest das gar nicht so bierernst, aber ich finde es interessant, und auch wichtig, deshalb sprechen wir weiter darüber.
Warum zu einfach?
Einerseits ist es ein krasses Beispiel. In typischer Fall des Sprichwortes, 'jemanden ins kalte Wasser zu schubsen'. Jedoch lässt es sich nicht einfach auf jeden anwenden.
Denken wir mal weiter: Auch kleine Kinder essen Fleisch, oder bekommen es vorgesetzt. Nun könnte man argumentieren, dass in diesem Falle die Eltern Verantwortung dafür übernehemn und so und so handeln sollten - aber du siehst, bereits da geht es zu sehr in eine Richtung der absoluten Fremdbestimmung. Wer soll den Eltern vorschreiben, wie sie ihre Kinder zu erziehen und zu ernähren haben? Wer darf das? Die Regierung? Du? Ich? Mh-hm.
Wieder zurück zu den Kindern: Die haben, wie allgemein bekannt, nicht unbedingt denselben moralischen Denk- und auch Erfahrungshorizont, wie ein erwachsener Mensch. Und selbst bei denen spalten sich da wortwörtlich die Geister.
Könnte man es also auch verantworten, einem Kind ein Messer in die Hand zu drücken, es vor ein Ferkel zu setzten und sagen: "Mach, wenn du deine Pinocchio-Portion Schnitzel mit Pommes und Mayo essen willst!" ?
Das wäre a) von uns, als 'erwachsenere' Menschen oder in dem Fall Erziehungsberechtigte unverantwortlich, und b) wahrscheinlich nicht ohne Folge für die Psyche des armen Kindes.
Mein Kerngedanke hierbei ist jedoch:
Der Mensch ist ja nicht per eigener Definition ein Fleischfresser. Grundsätzlich können wir ja mehr oder minder alles fressen. Doch die eigentliche Essenz unseres Wesen bleibt doch, dass wir darüber entscheiden und nachdenken können, was wir essen wollen und was nicht.
Während ein Wolf wahrscheinlich bei seiner Beute bleiben würde. Und eine Kuh bei ihren Weiden.
Darüber hinaus haben wir jedoch eine weitere einzigartige Fähigkeit:
Wir können wissen - oder vorsichtiger formuliert - erahnen, was gut und was schlecht ist. Was Schmerzen bringt und was nicht.
Wir müssen niemanden töten, um zu wissen, dass Mord tötet. Dass Sterben (in vielen Kulturen) Leid verusacht. Dass es etwas Schlimmes, Schlechtes ist.
Wir wissen, wenn uns das Messer schneidet, dann bluten wir, schreien wir, leiden wir Qualen. Dafür müssen wir es nicht erst selbst an unsere Kehle oder die eines anderen legen.
Manche tuen das natürlich trotzdem. Nicht ohne Folgen.
Und manch einer einer verbrennt sich schon in jungen Jahren die Finger am Herd, und lernt somit den Respekt vor Hitze und Feuer.
Aber auch dieser Respekt kann durch falsche Einflüsse schnell zur Angst, schnell zum Trauma werden.
Willst du derjenige sein - kannst du es vor dir selbst rechtfertigen - die Hand eines Kindes zu ergreifen, und sie auf die glühende Herdplatte zu legen? Oder ihm ein Schlachtmesser in die Hände zu drücken? Kannst du das? Darfst du das?
Ich weiß, der Ansatz hat eine durchaus pädagogische Natur. Aber du verstehst gewiss, was ich damit meine. Es fängt nicht bei der bloßen Prüfung an. Und es würde nicht damit aufhören.
Warum nicht vertretbar?
Nun, wie eben bereits erklärt, gibt es einige Situation, in denen so eine Art Prüfung nicht ohne weiteres anwendbar wäre.
So ein Konstrukt wäre schon als solches moralisch - aber wahrscheinlich auch soziologisch und psychologisch bedenklich.
Nun sagte ich auch schon, mir wäre der Ansatz zu imperativ. Warum? Ich will jetzt gar nicht mal auf Kant und Konsorten zurückgreifen. Versuchen wir es mit anderen Beispielen.
In dieser Prüfung geht es nicht bloß um eine direkte Konfrontation, sondern auch um Erfahrung und Verständnis.
Du siehst das Leid des Tieres, siehst die Qual, siehst die direkte Konsequenz deiner Tat. Du kannst zum ersten Mal verstehen, was deinem augenscheinlich leichtfertigen Verzeher von Fleisch voran geht, wie lange die Kausalkette eigentlich wirklich ist - und was dir verborgen bleibt. Du erlangst Erkenntnis. Aber vielleicht auch Mitgefühl, denn wie das Messer das Tier schneidet, schneidet es auch in deine Ignoranz, in deine Bequemlichkeit.
Doch wie weit würde so etwas gehen dürfen?
Können wir es dann auf allerlei moralische Bedenken anwenden und damit alles rechtfertigen?
In meinen Augen ist der Schlüssel zu Verständnis, Mitgefühl und dem richtigen Zeiger auf dem moralischen Kompass nicht unbedingt die Konfrontation. Zumindest nicht die direkte.
Willst du jeden in den Krieg schicken, damit er versteht, was Krieg bedeutet?
Willst du jeden zum Flüchtling machen, damit er ihre Situation versteht?
Willst du jeden geschlagen oder vergewaltigt werden lassen, dass er versteht, was Missbrauch bedeutet, auf dass er es selbst niemals täte?
Der Ansatz ist eigentlich schrecklich. Und nicht sehr weitsichtig - und, um das ganze aufzulockern: Es erinnert mich irgendwie an Saw ;_; Ganz nach dem Motto:
"Hast du das Leben verdient?"
Ich möchte das selbst entscheiden dürfen. Nicht durch so einen Opi, der mit einem Clown auf dem Fahrrad angejockelt kommt, und auch nicht von einem Nusma, der sich vorstellt, wie ich Leuterung dadurch erfahre, dass ich ein putziges Kalb abschlachte.
Was wir jedoch tun können, ist zu versuchen, uns in den anderen - oder auch das andere Lebewesen, hineinzuversetzen.
Vielleicht wissen wir nicht wie Krieg schmeckt. Vielleicht kennen wir kein Blut an unseren Händen; weder durch Tier noch durch Mensch. Aber wir können dem ganzen respektvoll entgegentreten.
Wir können vermeiden, was zu vermeiden ist. Wir können uns entscheiden, nicht das Tier zu essen. Wir können uns entscheiden, kein Leid zu verursachen, uns dieser Verkettung an Konsum und Tötung zu entziehen, ja.
Ebenso wie wir uns entscheiden können, gut zu jemandem zu sein, ihm nicht zu schaden oder ihm seine Ansichten abzusprechen.
In meinen Augen liegt die größte Kraft, die wir haben, in diesem Ansatz.
Wir müssen nicht missionieren oder zwingen, um etwas zu ändern. Wer Veganer oder Vegetarier sein möchte, kann dies tun, für sich, und um anderen vorzuleben, dass es funktioniert.
Ich selbst bin so etwas wie ein Teilzeitvegetarier. Bisher habe ich es nicht über mich gebracht, komplett auf all das zu verzichten. Ja, auch aus Bequemlichkeit und Ignoranz, aber ich versuche dennoch, mich stets zu bessern, auch wenn es nicht von jetzt auf gleich klappt. Auch wenn ich nicht mit dem Butcher-Messer gleich zum nächsten Schlachthof renne, um mich zu vergewissern, ob mein Gewissen auch wahrhaftig rein ist.
Ebenso bin ich allerdings von einigen lieben Vegetariern und Veganern umgeben, die mich mit ihrer Einstellung und Lebensweise ermutigen, inspirieren und mir Respekt abfordern - ganz ohne, dass es je eine Diskussion und einen Vorwurf gegeben hatte. Leider sind nicht alle Leute so gescheit, wie du bereits selbst sagtest gibt es immer Extremisten - aber denen versuche ich eben kein Futter zu geben. Schlechter Wortwitz, meh.
Darüber hinaus habe ich viele neckische Beispiele zwischen deinen Zeilen gelesen, die auf weitere Konflikte ansprechen:
Nämlich die frage, wie orthodox man eigentlich sein muss, um es richtig zu machen. Ist man selbst als Veganer/Vegetarier ein Heuchler, wenn man sich trotzdem einen Hund oder eine Katze hält?
Ist jede Form der Domestizierung von Tieren ein Verbrechen, oder ein Akt, der moralisch zu überdenken ist?
Ist man gleich heuchlerisch, fährt man gleich zweigleisig, sobald man keinen absoluten Weg geht? Und was erreicht man überhaupt damit, wenn man allem entsagt?
Ich weiß nicht. Man kann es ja für sich selbst gerne als eine Erfüllung oder auch Entfüllung; absolute Reinigung des Gewissns betrachten. Aber als moralischen Kompass, um übere andere zu urteilen und zu richten? Das halte ich für gefährlich.
Nur, dass wir uns nicht falsch verstehen, Nuuuusma (ich habe immer noch Angst vor dir <3). Mir geht es nicht darum, zu sagen: Meeensch, was redest du für einen Unsinn. Auch mir sind so radikale Einfälle schon gekommen. Doch mittlerweile sehe ich die Dinge aus einem anderen Blickwinkel. Ich versuche, in das mir richtig erscheinende zu investieren, aber nicht, mich darauf zu versteifen.
Und ja, ich stimme dir auch zu, dass der Mensch weder rein gütig, jedoch auch nicht rein egoistisch sein kann.
Aber dennoch würde ich den Ansatz mit der schonungslosen Kritik etwas milder - aber auch mit anderen Augen betrachten.
Sich mit etwas kritisch auseinanderzusetzen, ist immer wertvoll, meistens bereichernd und ermöglicht Veränderung und Wachstum.
Doch ebenso könnte man sagen, die ehrenhafteste Art und Weise, zu diesen Dingen zu gelangen, ist, es selbst zu tun - anstelle ständig von anderen darauf hingewiesen oder belangt zu werden.
Wie schnell sind wir dabei, den anderen zu beurteilen, weil er nicht so denkt und fühlt wie wir - weil uns unsere Moral als imperativ erscheint? Und unsere Vorstellung davon?
Sicher, über mancherlei Heftigkeit muss man sich in anbetracht mancherlei Kontext nicht wundern. Doch was haben wir davon, anderen Leuten ihren Wert und ihre Bewertung und Gewichtung verschiedener Dinge abzusprechen?
Warum glauben wir, unser Maßstab sei der Maßstab der Welt? Warum gehen wir nicht mit einer Grundachtung, einem Grundrespekt an Personen und Dinge heran, noch bevor wir über all das urteilen wollen?
Für mich besteht die wahre Kunst darin, sich in diesem Punkt zu überwinden - noch bevor wir es mit allem anderen tun.