Wow, Raen.
Erstmal vielen Dank dafür, mit wie viel Mühe und Sachverständnis Du an dieses Thema herangegangen bist. Es ist eine gute (und wichtige) Einleitung für dieses Thema, die Du da formuliert hast - oftmals wird einfach ein persönliches Problem (oder vielleicht besser: Eine Art Gefühlsausbruch) in den Raum gestellt, ohne zu informieren, oder solche Themen von mehreren Blickpunkten aus zu betrachten.
Argh. Das soll nun nicht heißen, dass persönliche oder emotionale Aspekte unerwünscht sind, gerade bei solchen Themen ist das Gegenteil der Fall!
Was ich einfach sagen möchte, ist, dass ich es sehr zu schätzen weiß, wie Du an dieses Thema herangehst. Wahrscheinlich aus eben persönlichen Erfahrungen, weil es für mich auch ein wichtiges und enschneidendes Thema ist. Aber auch aus dem Grund, weil ich mich in meiner akademischen Laufbahn intensiv mit solchen Dingen beschäftige, und oft ernüchternd feststellen muss, dass Themen wie Depressionen oft entweder sehr voreingenommen behandelt werden, oder unter dem Einfluss von Oberflächlichkeit, Halbwissen und seltsamen Übertreibungen.
In diesem Sinne auch Danke dafür, und auch ein lieb gemeinter Schulterklopfer dafür, dass Du den Mut aufbringst, so frei über dieses Thema zu sprechen - auch auf der Ebene persönlicher Erfahrungen.
Ich weiß, für manche Leute sind Depressionen auch etwas alltägliches, oder nichts, wofür man sich schämen müsste darüber zu sprechen. Doch leider ist es vor allem so, dass Leute, die konkret von dieser Krankheit betroffen sind, es unheimlich schwer haben, darüber zu reden. Vorallem öffentlich.
Aus Angst davor, nicht erngst genommen zu werden. Aus Angst davor, stigmatisiert zu werden. Und nicht zuletzt aus Angst davor, zurückgewiesen oder sogar verspottet zu werden.
Depressionen sind, zumindest so wie ich es wahrnehme, gerade in unserer heutigen Gesellschaft eine delikate Angelegenheit.
Auch ich weiß, dass die Depression eine tatsächliche Krankheit ist und möchte auch niemandem die Wahrhaftigkeit solcher Umstände absprechen.
Dennoch bin ich mancherlei Äußerung im Zusammenhang mit dem Begriff "Depression" gegenüber sehr kritisch eingestellt.
(Das soll dann in diesem Sinne auch mein erster Beitrag oder Gedankengang zu diesem Thema sein, und ich wäre gespannt, wie ihr darüber denkt!)
Es gibt zwei Dinge, die ich heutzutage und auch in der Vergangenheit verstärkt beobachten konnte, gerade wenn es um virtuelle Platformen und öffentliche Medien geht. Und diese Dinge stimmen mich vor allem kritisch, weil ich sie als furchtbar unsensibel empfinde:
1. Die Verwendung des Begriffes "Depression" oder "depressiv".
Ich habe verstärkt den Eindruck, dass viele Leute, die sich mal melancholisch oder betrübt fühlen, schnell auf den Geschmack kommen, sich als depressiv oder unter Depressionen leidend zu betiteln.
Das hat sich im Volksmund wohl so eingebürgert, aber ich finde es trotzdem ziemlich unangebracht.
Der Grund: Auch wenn es wahrscheinlich nur als Überspitzung dient, erweckt es auf mich doch oft den Eindruck, dass die Grenzen der Vorstellung von betrübt und dem eigentlichen Zustand depressiv mittlerweile fließend sind.
Im klinischen Sinne ist jedoch jemand, der tatsächlich depressiv ist, meistens gar nicht in der Lage, dass bei sich sofort zu "erkennen" - wie es bei vielen psychischen Krankheiten auch der Fall ist: Man muss sich also vorstellen, dass es, insbesondere wenn man zum ersten Mal in seinem Leben davon betroffen ist, für die Betroffenen gar nicht klar ist, dass sie überhaupt krank sind, oder dass sich an ihrer Wahrnehmung oder Empfinden etwas maßgeblich verändert hat.
Somit ist der Begriff, zumindest wenn man auf seine fachliche Konnotation Bezug nehmen will, schon an dieser Stelle völlig falsch verwendet.
2. Psychische Krankheiten als eine Art Life-Style oder als Zeichen von Individualität.
Okay. Ich möchte auch dieses Thema ansprechen, und ich möchte das so klar und deutlich wie möglich machen, damit mir niemand gleich an den Hals springt.
Zunächst einmal: Ich werde niemals jemandem, der wirklich krank ist, oder jemandem, dem es einfach schlecht geht, absprechen, dass das so ist, oder dass er/sie das darf!
Darum geht es nicht.
Jeder hat ein Recht auf Krankheit (*hust*) und darauf, sich schlecht zu fühlen, so oft und so sehr er/sie will. Und auch wenn das jetzt erstmal zynisch klingt, so möchte ich damit doch eigentlich sagen, dass es mir lieber wäre, wenn es allen gut ginge.
Das ist zwar dann für meine Chancen auf dem Arbeitsmarkt der Zukunft der Ruin, aber was soll's.
Nichtsdestotrotz möchte ich an dieser Stelle meine 2. Beobachtung beschreiben. Und dieser folgt, dass sich vermehrt (vorrangig jüngere/sich im pubertären Alter befindende) Leute gerne auf Social Media Plattformen mit psychischen Krankheiten/Störungen profilieren.
Um es gleich zu sagen: Ich finde das super geschmacklos. Aber das muss ja erstmal jeder für sich selbst entscheiden.
Aber: Damit kein falscher Eindruck entsteht: Nein, ich zweifle damit nicht den Wahrheitsgehalt von Raens Situation oder irgendwelcher Leute hier an. Hierin liegt kein versteckter Vorwurf auf persönlicher Ebene, sondern nur eine (hypothetische) Beobachtung von Phänomenen meinerseits mit einem subjetiven Wertungsgehalt.
Um es noch weiter zu konkretisieren:
Diese Phänomene beobachte ich vorallem auf Plattformen wie Tumbler. 9GAG. Facebook eher weniger, da es anders funktioniert. Aber auch bei "realen" Personen aus näherem oder weiterem Umfeld. Jedenfalls:
Es ist mir fast unheimlich, wie sehr solche Phänomene schon fast wie eine Art "Stil" auf den Profilen und Selbstdarstellungen Präsenz erfahren und sich verbreiten.
Es erweckt den makaberen Eindruck, psychische Krankheiten seien das neue Cool. Oder ein Zeichen für Individualismus.
Letzten Endes könnte man recht nüchtern spekulieren, dass es in solchen Altersspektren oft vorkommt, dass man sich zuordnen möchte, oder auch hervorstechen möchte. Und dass es in einer Welt, die immer virtueller, immer schneller wird, wahrlich nicht einfach ist, anderen noch was vorzumachen, oder "authentisch" zu bleiben.
Aber das ist nur eine Sache, die ich so wahrnehme/beobachte.
Ich beschreibe das alles nun recht intuitiv. Dennoch kann ich gerne versuchen, Referenzen herbeizuziehen, wenn das gewünscht ist.
(Das Problem in der Situation ist, dass die meisten Plattformen Zugriffsbeschränkungen für Nicht-User haben - ich könnte aber dementsprechend anonymisierte Screenshots zu pseudo-empirischen Vergleichen erstellen °_° Oder eventuell Artikel und Beiträge, die sich mit ähnlichen Beobachtungen außereinandersetzen.)
Auf der einen Seite kann man sich also fragen, ob es so förderlich ist, eigentliche Krankheiten im vermeintlichen Kontext von Individualität zu setzen -> Schließlich könnte das, auf lange Sicht, auch wieder darin resultieren, dass Leute psychische Krankheiten immer weniger ernst nehmen, sondern mit einer Art Phase oder Image verknüpfen - was natürlich nicht zuträglich ist für das Anliegen, psychische Krankheiten von ihrem Tabu-Thema-Bild zu befreien.
Auf der anderen Seite, soviel Zugeständnis muss sein, ist es aber auch (wenn so angegangen wie Raen hier) eine sehr förderliche Sache, um auf solche Themen aufmerksam zu machen.
Das sind erstmal meine skeptischen zwei Cents; nicht bloß zum Thema Depression an sich, sondern dazu, wie mit solchen Themen öffentlich und persönlich teilweise umgegangen wird.
Auf persönlicher Ebene kann ich zum Thema Depressionen noch sagen:
Ja, auch ich habe Erfahrungen damit gemacht. Am eigenen Leib sowie als Angehörige.
Es ist mir auch nicht peinlich oder unangenehm, darüber zu reden, nur bin ich immer etwas unschlüssig, inwieweit wirklich jeder wissen muss, was in meinem (nicht-virtuellen) Leben so abgeht. (Das ist Internet ist dunkel und unendlich und vergisst nie.)
Wenn jemand gerne möchte, dass ich zu diesem Thema persönliche Erlebnisse mitteile (vielleicht wirkt das dann auch weniger distanziert oder hilft dabei, das Thema noch besser zu verstehen?), dann erkläre ich mich gerne bereit dazu ._. Aber das nur als Nebenbemerkung =)
Ansonsten, nochmal Danke an Raen. Und auch ich würde mich freuen, zu hören, was andere über das Thema Depression denken, oder ob sie damit Erfahrungen gesammelt haben. -> Oder was ihr über die oben angeführten Beobachtungen denkt °_°