Es gab mal eine Zeit, als das geltende Recht eines jeden Landes aus den Gesetzen bestand, die von der Legislative dieses Landes erlassen wurden, und als alle juristischen Personen innerhalb der Landesgrenzen – sowohl Individuen als auch Unternehmen – diesem Recht unterstanden. Aber noch davor gab es eine Zeit, in der Macht das einzige Gesetz war und man tun und lassen konnte, was man wollte, solange man mächtig genug war, dass andere einen nicht daran hindern konnten (wobei die Geschichte natürlich genug Beispiele dafür liefert, dass dies eigentlich immer der Fall war, auch als die Nationalregierungen das Sagen hatten). So gesehen ist der Zustand in der Sechsten Welt nichts wirklich Neues. Wir haben es im Grunde mit der modernen Ausprägung des alten Faustrechts zu tun. Der einzige Unterschied ist, dass die Regierungen früher die Konzerne im Zaum halten oder ihnen zumindest gewisse Grenzen setzen konnten – doch diese Zeiten sind vorbei.
Ich könnte jetzt eine Menge Rechtsgeschichte ausbreiten, um euch genau zu erklären, wie wir an diesen Punkt gelangt sind, aber im Endeffekt läuft es auf ein Wort hinaus: Exterritorialität. Dieses Wort ist der Grund dafür, dass alles, was auf dem Gelände eines Konzerns, in seinen Gebäuden und auf seinem Grundbesitz geschieht, seinem eigenen Konzernrecht untersteht – und keinem anderen Recht. Den exterritorialen Status zu erlangen, war ein lange gehegter Traum vieler multinationaler Konzerne, und als ihnen immer mehr Staaten der Erde diesen Status gewährten, verbrachten sie erst einmal einige Jahre damit, vor lauter Begeisterung sich selbst und ihre Konkurrenten anzupissen. Irgendwann wurde ihnen dann klar, dass diese Grabenkämpfe schlecht für die Jahresbilanz waren, also hörten sie auf, sich gegenseitig zu bekriegen, und konzentrierten sich lieber darauf, den Rest von uns anzupissen. Nicht alle Konzerne der Welt besitzen den Status der Exterritorialität.
Damit ihr versteht, wer zu diesem illustren Kreis gehört, muss ich euch etwas über den Konzerngerichtshof erzählen. Er wurde von den Konzernen ins Leben gerufen, als sie einsahen, dass sie zu viel Zeit damit verschwendeten, ihre Meinungsverschiedenheiten durch die Verwüstung ganzer Kleinstaaten zu klären. Der Konzerngerichtshof wird oft als machtloses Gebilde verspottet, als reine Marionette der größten Megakonzerne, aber immerhin schafft er es – jedenfalls meistens -, den Ausbruch offener Feindseligkeiten zwischen den Konzernen zu verhindern, und das ist ja auch schon was wert.
Als Teil seiner Aufgaben hat der Konzerngerichtshof ein Klassifizierungssystem eingeführt, das uns sagt, wie groß und mächtig ein Konzern ist. Ganz unten rangieren die unklassifizierten Konzerne, angefangen bei der Kommlink- Reparaturfirma, die die beiden Jungs von nebenan auf dem Rücksitz ihres Ford Americar betreiben, bis hin zu Unternehmen, die sich in einer der größten Nationen der Welt ausgebreitet haben, aber nicht über deren Grenzen hinaus. Um sich die niedrigste Einstufung zu verdienen, die der Konzerngerichtshof vergibt, das einfache A, muss man ein multinationaler Konzern sein und in mehr als einem Land nennenswerte geschäftliche Aktivitäten betreiben. Und nein, gelegentlich eine Tüte WafoChips an einen Schäfer in Neuseeland zu verkauft, reicht nicht.
Die nächste Stufe, nämlich ein AA- Konzern zu werden, bringt den langersehnten Preis der Exterritorialität mit sich. Um dahin zu kommen, müsst ihr beweisen, dass ihr ein zäher Brocken seid und dass ihr Scheiße aushaltet, mit der euch die ganz Großen manchmal bewerfen, wenn sie mal wieder so richtig schlechte Laune haben.
Und dann ist da die Topliga, die AAAs. Die Großen Zehn. Sie sind nicht unbedingt die größten Megakonzerne der Welt, aber wegen ihrer Größe, ihrer Vielfalt und ihrer Macht sind sie etwas Besonderes – und wegen der Tatsache, dass es ihnen irgendwie gelungen ist, die anderen Megas davon zu überzeugen, dass ihnen ein Sitz im Konzernsgerichtshof zusteht. Denn daraus setzt sich dieser Gerichtshof zusammen: aus Richtern der Großen Zehn. Diese Megakonzerne sind die Mächte, die die Welt gestalten, und jeder, ob Shadowrunner oder nicht, kennt ihre Namen, denn sie sind die Quellen, aus denen die Nuyen fließen – und wo die meisten Nuyen schließlich wieder landen. Ares. Aztechnology. Evo. Horizon. Mitsuhama. NeoNET. Renraku. Saeder- Krupp. Shiawase. Wuxing. Wenn ihr länger als zehn Minuten Shadowrunner bleiben wollt, dann werdet ihr für einen von ihnen arbeiten, und wenn ihr länger als einen Tag in den Schatten lebt, werdet ihr unweigerlich von ihnen übers Ohr gehauen. Ihr müsst über sie Bescheid wissen, deshalb werden wir uns weiter unten noch ausführlicher mit ihnen beschäftigen.
Für den Moment reicht es, wenn ihr begreift, dass diese Jungs größer als nur groß sind. Stellt euch den weltgrößten Hersteller von Computerzubehör vor. Dann fügt einen riesigen Zwischenhändler für magische Utensilien hinzu. Werft noch ein paar Banken dazu, eine Versicherung, ein Unterhaltungskongklomerat und einen Fastfood- Riesen, und ihr habt noch nicht mal ein Zehntel von einem der Großen Zehn zusammen. Sie beschäftigen Millionen Arbeitnehmer und kontrollieren Billionen von Nuyen. Sie haben Dutzende von Tochtergesellschaften, die für sich allein schon als AA- oder A- Konzerne durchgehen würden. Jeder Einzelne von ihnen besitzt irgendwo ein Stück Land, das nicht weiter als 100 Kilometer von euch entfernt ist – wenn ihr nicht gerade in der Sahara, am Amazonas oder auf dem Meeresboden lebt. Aber vielleicht auch da. Und sie alle haben ihre Angestellten davon überzeugt, dass der sichere Schoß, den sie ihnen bieten, es wert ist, jahrzehntelang unterbezahlte, stupide, geistestötende Arbeit zu leisten. Sie sind die Armeen der Lohnsklaven dieser Welt, und eine mögliche Definition für uns Shadowrunner ist, dass wir nicht dazugehören. Und doch verkaufen wir genau wie sie unsere Zeit und manchmal auch unser Leben, um nach der Pfeife der Megakonzerne zu tanzen. Denn die haben die Nuyen, auf die wir scharf sind, und das bedeutet, dass sie die Regeln des Spiels festlegen. Wir spielen es nur.
Aber wenn wir anders sein wollen als die geknechteten Massen – stärker, schneller und, ich sage mal besser - , dann brauchen wir einen Vorteil. Ein paar von uns haben das Glück, dass die Magie für sie dieser Vorteil ist.
Für uns andere gibt es Bodytech.