Ich verstehe deine Argumentation. Allerdings sehe ich einen starken Unterschied zwischen einer Verdachts-Diagnose und einer für sich selbst fest gelegten Diagnose. Der Unterschied ist, dass bei einem Verdacht einfach noch keine Diagnose erfolgt ist. Während das Verweigern einer Diagnose etwas ganz anderes ist.
Bei einer Sache muss ich dir jedoch verneinen: Ein Arzt muss nicht zwingend das Wissen für neurodiverse Diagnosen haben. Ich bin ja in Kontakt mit vielen Autisten/ADHS'lern. Viele davon haben im Übrigen auch erst im späten Alter eine Diagnose erhalten. Was leider auch zufolge hatte, dass sie mit psychischen Problemen zu kämpfen hatten. Eine nicht entdeckte Diagnose kann für Betroffene etwas sehr Schlimmes sein, da viele davon unter anderem auch in Burn-Out und Depression rutschen können.
Zudem ist nicht gesagt, dass der Arzt aufgeklärt genug über diesen Bereich ist. Eine Bekannte von mir hat ADHS und Autismus (mit Diagnose). Jedoch hatte sie schon sehr viele Zentren vorher besucht, die für diesen Bereich arbeiten und ich weiß aus eigener Erfahrung (im Therapiebereich), dass dort noch sehr viel geforscht werden muss. Was noch dazu kommt ist, dass so eine Diagnose nicht von der Krankenkasse bezahlt wird. Bisher noch nicht. Ob sich das in Zukunft ändert... i don't know.
Jedenfalls möchte ich darauf hinaus, dass es ein Privileg ist das Geld für eine Diagnose aufzubringen. Die kann alleine schon um die 1.000€ kosten. Und das ist übrigens keine Übertreibung. Ich bin selbst schon sehr informiert in dem Thema, da ich diesen Verdacht schon seit einigen Jahren haben.
Was noch hinzu kommt ist auch das Stigma über neurodiverse Menschen, was sich leider weiterhin aufrecht erhält. Den meisten ist einfach nicht klar was für ein Kampf es ist überhaupt sich bis zu so einer Diagnose durchzukämpfen. In dem Punkt schätze ich mich glücklich, dass die neue Generation bei diesem Thema wesentlich mehr Offenheit zeigt als die ältere Generation. Doch es gibt Ausnahmen. Ich versuche das Mal mit etwas anderes zu verbeispielen.
Du meintest doch: Eine Verdachts-Diagnose reicht nicht aus um jemanden anderen zu behandeln. Man kann ihn doch einfach anhand seiner Issues behandeln (in dem man Rücksicht nimmt). Das ist natürlich schon Mal ein guter Schritt, aber wie auch bei anderen medizinischen Notwendigkeiten gehst du (Mal abgesehen von der jährlichen Arztkontrolle) niemals ohne einen Verdacht zum Arzt. Die meisten Autismus- und ADHS-Diagnosen werden nicht (wie man annimmt) im Kindesalter entdeckt, da früher einfach das Wissen noch nicht so vorhanden war. Einer der Gründe warum heutzutage auch sehr viele Erwachsene straucheln, da man ihnen A. die Diagnose nicht abkauft oder B. ihnen schlichtweg die Ressourcen fehlen.
Mit Ressourcen meine ich:
- Selbst der Anruf kann schon anstrengend für einen neurodiversen Menschen sein. Das heißt bis es überhaupt so weit kommt, dass man einen Termin bekommt können Wochen und Monate ins Land ziehen.
- Was noch hinzu kommt sind die finanziellen Ressourcen. Ich kenne viele Autisten/ADHSler denen es schlichtweg an Geld und finanzieller Unterstützung fehlt. Meist muss man aus eigener Tasche das Geld zusammen sparen, was wiederum auch wieder ein langer Aufwand sein kann. Ich setze die Kosten jetzt einfach Mal mit dem Kauf eines neuen PC's gleich. Auf den muss man ja auch lange sparen.
- Was noch hinzu kommt... ich weiß nicht ob der Begriff Masking dir geläufig ist, aber viele Autisten/ADHSlern verhalten sich unter Menschen meist gar nicht so neurodivers und eher a-typisch. Einfach weil es auch oftmals von ihnen verlangt wird (im Arbeitsleben, beim Arzt, usw.). Das bekommt man also nicht immer gleich mit. Ich hab mich da auch mit einer Bekannten ausgetauscht, die auch sagt, dass es für sie teils auch schwer ist nicht vor Ärzten zu masken (ist mir selber oft genug passiert, weil man es einfach so gewohnt ist). Und so kann es sogar zu einer Fehldiagnose kommen (wenn man denn Mal soweit ist).
- Hinzu kommt (das weiß ich auch nur durch die Bekannte), dass man teilweise auch Eltern (was ist wenn man keinen Kontakt mehr dazu hat?) und andere Dokumente (bspw. Zeugnisse - da stehen ja oft die Verhaltensweisen der Kinder drinnen) vorweisen muss. Es braucht natürlich einiges damit man so eine Diagnose machen kann. Das ist sehr Kräfte zerrend und mit fehlender Unterstützung kann es auch dazu kommen, dass die Betroffene Person eventuell niemals eine Diagnose kommt.
- Was ich noch kenne... und das haben auch sehr viele erwachsene Neurodiverse. Das ist ein weiterer Fachbegriff. Er nennt sich Imposter Syndrom.
Hier gibt's auch einen Link dazu, falls du die Zusammenhänge davon verstehen möchtest:
Gib anderen Menschen doch lieber erstmal solche Hinweise, und sag ihnen konkret, wie sie darauf Rücksicht nehmen oder was sie in so einem Fall tun können. Lass sie wissen, was es bedeutet und was nicht, was du grad brauchst oder was man lieber lässt. Nicht jeder hat davon Ahnung (und steht auch nicht in der Verantwortung, sie zu haben) oder kann mit Fachbegriffen etwas anfangen. Meiner Erfahrung nach erreicht man andere Menschen auch eher, wenn man ihnen dahingehend "auf Augenhöhe" begegnet (auf der man ja auch betrachtet werden möchte), anstatt einfach eine Erwartungshaltung zu haben oder etwas vorauszusetzen.
Das Problem ist, dass das für Betroffene schon anstrengend werden kann. Also in meinen persönlichen Umfeld weiß z.B. jeder von meinen Autismus Verdacht und da ist das auch keine große Sache. Nur wenn du keine Diagnose hast wird solchen Menschen gerne zugeschoben, dass sie eine Extra-Behandlung haben wollen. Das wurde mir gerade in meinen letzten Job immer wieder vorgeworfen und es hat mich unheimlich belastet. Ich wurde absolut nicht ernst genommen. Die meisten die ich kenne verschweigen entweder ihren Verdacht oder versuchen anzupassen (Masking). Und meist sind sie am Ende des Tages auch richtig erschöpft davon, weil es Kraft kostet sich der Normalität anzupassen.
(Normalität soll übrigens kein negativer Begriff sein. Es geht einfach um den Unterschied zwischen a-typisch und neurodivers).
Und bis ich der Person erklärt habe was sie alles beachten soll bei mir schüttelt sie eher mit dem Kopf oder rollt mit den Augen. Es ist schon schlimm genug, dass man in den eigenen Kreisen teilweise kein Verständnis bekommt.
Was den Punkt mit Ärzten angeht: Mein letzter Versuch einen Therapieplatz zu bekommen endete bei einem Therapeuten, der mich aufgrund meines Körper ge-bodyshamed hat. Das mag erst Mal ein Einzelfall sein, aber Therapeutensuche ist verdammt anstrengend. Ich denke ich muss dich nicht über den Mitarbeiter-Mangel an (eigentlich jeder Stelle des Berufsfelds heutzutage) aufklären. Gerade Therapeuten wie diese findet man nicht wie Sand am Meer.
Ist zwar jetzt nichts Psychologisches, aber um es mit meiner Ohren OP zu vergleichen: Es gibt in Deutschland gerade einmal drei spezialisierte HNO Kliniken. (Ich meine damit nicht die einfacheren HNO-Ärzte, sondern Krankenhäuser). Mein Glück war, dass ich nahe an einer dieser Kliniken gewohnt habe. Andere müssen wiederum teilweise 3-4h mit dem Auto/Zug fahren damit sie diese erreichen.
Spezialisten (auch im Falle einer psychologischen oder neurodiversen Diagnose) sind so wenig vorhanden, dass es wirklich schwer ist. Und ich freue mich auch über jeden der es schafft eine zu bekommen (und vor allem dann keine Zweifel daran hat). In meinen Augen wir das Imposter-Syndrom leider auch sehr durch so veraltete Einstellungen unterstützt.
Neurodiversität ist kein Trend. Der Unterschied ist, dass man heutzutage solche Themen anspricht. Während es damals kein Social Media gab. Ähnlich ist es mit der LGBTQ+ Bewegung. Es wäre einfach schön wenn wir eine offenere Gesellschaft wären, die sich nicht bei jeder Absonderlichkeit querstellen würde. Ich weiß auch nicht was man dabei zu verlieren hat wenn man einfach versucht auf andere zuzugehen. Für mich war es bisher keine Hürde mich der Gesellschaft anzupassen.
z.B. poste ich meine Social Media Bilder nur noch mit ALT-Texten, weil ich weiß, dass ich auch Blinde diese nutzen und am Leben teilhaben wollen. Genauso ist das bei diesem Thema. Man kann natürlich nicht in die Köpfe der Menschen schauen und erkennen was sie haben, aber wenn man davon weiß ist (finde ich) der erste Schritt sich zu überlegen wie man beidseitig gut miteinander leben kann. :)
Und daher finde ich es absolut gerechtfertigt, solchen Äußerungen mit Vorsicht und Skepsis zu begegnen. Es ist für mich auch schwer nachzuvollziehen, weshalb solche Diagnosen mit scheinbar weniger Ernsthaftigkeit behandelt werden, als andere Krankheits- oder Störungsbilder.
Das ist schade, dass du so denkst. Ich höre aus deinen Worten sehr viele Vorurteile heraus. Verdachts-Diagnosen haben definitiv ihre Berechtigung. Denn ohne würde niemals einfach Mal so freiwillig 1000€ für eine Diagnose hinblättern. Und es gibt heutzutage immer noch genug Ärzte, die nicht informiert sind und deswegen gar nicht die Fähigkeit haben so etwas überhaupt festzustellen. Ähnlich wie in anderen Berufsgruppen auch gibt es welche die ihren Job gut ausüben und andere wiederum die diesen besser nicht gemacht hätten.
Man würde ihn zum Arzt schicken. Und womit? Mit Recht. Ich für meinen Teil würde nämlich nicht wollen, dass irgendein Laie, Quacksalber oder Tik-Toker mir so etwas ausstellt, sondern jemand, der die entsprechenden Bescheinigungen dafür besitzt. Sonst bewegen wir uns nämlich auch ganz schnell wieder rückwärts in unserem Fortschritt.
Ich kritisiere TikTok auch und ja es gibt eine Menge schwarzer Schafe in der Internetlandschaft, aber in meinen Augen haben diese beiden Themen nichts miteinander zu tun. Für mich ist es eher ein Rückschritt wenn man versucht Social Media zu instrumentalisieren um seine Meinung zu bekräftigen. Es gibt genug Gründe warum man sich bei dieser Thematik öffnen sollte. Ich weiß leider auch nicht wie dein Umfeld aussieht, noch wie du überhaupt auf Social Media oder im Internet unterwegs ist. In meinem Falle kann ich nur für die Betroffenen sprechen die ich kenne. Und viele davon sind nicht einmal auf TikTok unterwegs. Diese haben sich schon Jahre vorher sehr intensiv damit auseinander gesetzt.
Deswegen empfinde ich es als sehr unfair, dass man sofort mit solchen Menschen ins Boot gesteckt wird. Denn genauso wie es damals schon "cool" war sich als Punk zu kleiden, sich zu ritzen und bei Tumblr Depression verherrlicht wurde ist das heutzutage auch nicht anders.
Dafür mischen heute auch noch diese ganzen unsäglichen rechten Menschen mit, die ihre konservative Lebensweise auf allen Social Media Plattformen verteilen. Da geben sich beide nicht viel.
Jedoch hat das in meinen Augen nichts mit der ernsthaften Auseinandersetzung dieses Themas zu tun. Sondern lenkt eher vom eigentlichen Problem ab.