Keine Sekunde Schweigen
CD-Rezension
Genre: Chanson / Pop / Electro
Erscheinungsdatum: 24. August 2012
http://www.schneewittchenmusik.de
Schneewittchen sind:
Marianne Iser (vox)
Thomas Duda (vox, keys, synth)
"Wollt ihr mir immer noch erzählen, was in meinem Leben fehlt...?"
Schneewittchen aus Hannover bzw. Madgeburg legen nach vier Jahren ihr neues Album vor. 'Keine Sekunde Schweigen', welches ursprünglich schon im April auf den Markt kommen sollte, wurde von Sony immer und immer wieder verschoben, doch nun hat das Warten ein Ende. Hat es sich gelohnt?
Der mittlerweile sechste Longplayer sorgt jedenfalls dafür, dass man sich als Alteingesessener sofort heimisch fühlt. Der Titeltrack und das darauf folgende 'Fürchte dich nicht' sind bissige, temporeiche Nummern allererster Kajüte, die siich sofort in den bestehenden Liederkosmos einfügen. Den ebenso uralten wie ausgelutschten Vergleich 'Rosenstolz trifft Nina Hagen' möchte ich hier eigentlich nicht noch einmal anbringen, aber verdammt nochmal, besser kann man dem Unwissenden den vorliegenden Sachverhalt einfach nicht beschreiben.
Während die ersten beiden Tracks laufen, hat man zudem nicht das Gefühl, dass der Wechsel zum Major Label irgendwelche bleibenden Schäden angerichtet hat. Ist ja schon mal keine Selbstverständlichkeit. Die überbordende Theatralik, die einen in Versuchung geraten lässt, die CD anzuhalten und sich vor dem Weiterhören hemmungslos mit Hochprozentigem zu betrinken und dann jede Zeile weinend auf dem Fußboden liegend mitzugröhlen, ist so präsent wie eh und je. Dies gilt insbesondere für das hingebungsvolle 'Ja, ich will!' und der opulenten Überarbeitung von 'Du musst an dich glauben', in die ich mich wirklich reinlegen könnte, so begeistert bin ich. 'Zwischen-den-Welten-Tänzerin' packt dann den wohl tanzbarsten Sound der Bandgeschichte aus, der lyrische Inhalt ist entsprechend und die luftig-leichte Hookline erinnert in der Tat frappierend an die Disco-Reißer vergangener Tage, während es in 'Jenseits von Gut und Böse' wieder düsterer wird. Spätestens an diesem Punkt der CD wird man festgestellt haben: Schneewittchen sind, wiederkehrende Themen wie Liebe und Einsamkeit hin oder her, eine Band der klaren Worte. Das textliche Niveau ist überschaubar, aber immer pointiert und bildreich. Die Musik pendelt, wie die Texte, zwischen größtmöglicher Sanftheit und punkigen Explosionen (wie zum Beispiel im hervorzuhebenden 'Der Ring an deinem Finger', das ständig wie selbstverständlich zwischen den Stimmungen changiert).
Ist das nun ganz große Kunst? Oder ist das ganz großer Kitsch? Selbstredend liegt die Wahrheit wie immer irgendwo in der Mitte. Man könnte sich natürlich darüber beklagen, dass, wie gehabt, die Grenze zum schmonzettigen Schlager mit 'Zwischen Bauchnabel und Brust' oder auch dem herrlichen 'Wunderbar' mehr als nur einmal derb gestreift oder gar übeschritten wird. Aber man weiß ja schließlich vorher, worauf man sich da einlässt. Wer möchte, kann auch noch darüber mosern, dass drei Tracks lediglich Neuauflagen älterer Songs sind (den Neueinsteiger wird's nicht stören), aber da diese mit Ausnahme einer kruden Dancepop-Version von 'Töte mich ganz', mit der ich mich nicht so recht anfreunden kann, durchaus gelungen sind, sehe ich da persönlich keinerlei Bedarf zum Beschweren.
Für die Verhältnisse dieses kratzbürstigen Duos ist die aktuelle Platte relativ sanft und glatt geworden, Songs wie 'Sadistisch' oder 'Der Tod hat sich verliebt' gibt es hier jedenfalls nicht zu finden, doch trotz einer offenherzigen Poppigkeit fehlt nie der ausgestreckte Mittelfinger in alle möglichen Richtungen. Das ziellos Unbändige, die überschäumende Wut, mit der man nicht weiß wohin, diese lyrischen und stilistischen Kernelemente der Gruppe sind ebenso wieder vertreten wie das Sanfte und Verletzliche, die Angst vor der Welt da draußen. Das Album setzt damit konsequent den Weg seines Vorgängers 'Perlen vor die Säue' fort: Irgendwie eingängiger, man könnte auch massentauglicher sagen, weniger morbide, aber trotzdem genauso böse, verbittert und sehnsüchtig. Wer sich von der Familienpackung Pathos nicht erschlagen fühlt, wird mit diesen Liedern fantastische Stunden voller Glück und Verzweiflung erleben.
In diesem Sinne: Ja, ich will!
1. Keine Sekunde Schweigen (Anspieltipp)
2. Fürchte dich nicht
3. Töte mich ganz
4. Zwischen Bauchnabel und Brust
5. Ja, ich will!
6. Du musst an dich glauben (Anspieltipp)
7. Zwischen-Den-Welten-Tänzerin (Anspieltipp)
8. Jenseits von Gut und Böse
9. Ist das schon alles gewesen?
10. Der Ring an deinem Finger (Anspieltipp)
11. Wunderbar
12. Verbissen
13. Genialer Augenblick
Für Interessierte hier noch das aktuelle Musikvideo, ominöserweise mit spanischen Untertiteln.
9 / 10