„ Julián Carax
Der Schatten des Windes
Noch nie hatte ich diesen Titel oder den Namen seines Autors gehört, doch das war mir egal. Der Entschluß war gefaßt. Von beiden Seiten. Äußerst behutsam ergriff ich das Buch und blätterte es durch. Aus der Gefangenschaft des Regals befreit, verströmte es eine goldene Staubwolke. Ich war zufrieden mit meiner Wahl und ging mit dem Buch unter dem Arm durch das Labyrinth zurück. Vielleicht hatte mich die Zauberstimmung dieses Ortes bezwungen - jedenfalls hatte ich die Gewißheit, daß das Buch seit Jahren, wahrscheinlich seit der Zeit vor meiner Geburt, hier auf mich gewartet hatte. “
( Carlos Ruiz Zafón: Der Schatten des Windes | Seite 12-13 )
„Und ich sage euch“, verkündete D. und erhob sich schaukelnd von seinem angestammten Sitzkissen, wobei er arg mit seinen Armen ruderte, um Herr über seinen vom Alkohol getrübtem Gleichgewichtssinn zu werden: „am Ende aller Tage wird es der Mensch sein, der sein eigenes Ende heraufbeschwört!“
Dramaturgische Pause.
„What the hell is he talking about?“, fragte mich der Kanadier, an dessen Namen ich mich beim besten Willen nicht erinnern kann, und deutete mit seinem Finger auf D.
Ich zuckte mit den Schultern und antwortete desinteressiert an der Deklaration meines Freundes „Nonsense“ ehe ich mich wieder ganz von der Lektüre einnehmen ließ, die ich Minuten zuvor im Bücherregal der Eltern des Freundes, bei dem wir zu Besuch waren, entdeckt hatte. Von einem gewissen Carlos Ruiz Zafón, dessen Name mir absolut nichts sagte, war es verfasst worden und hörte auf den geheimnisvollen Namen Der Schatten des Windes und ohne es selber recht zu realisieren, hatte ich bereits so an die fünfzig Seiten verschlungen, als der Kanadier sich wieder zu mir umwandte und mich fragte, ob wir nicht den Wein köpfen wollten.
Nachdenklich sah erst ihn, dann das Buch und schließlich D. an und nickte dann bestimmt. Mit einem seligen Lächeln auf den Lippen erhob ich mich von meinem eigenen Sitzkissen, wandte mich zu dem Regal, an das ich mich angelehnt hatte, um und verbannte den Der Schatten des Windes mit dem stummen Versprechen, dass ich ihn noch in dieser Nacht erwerben würde, in seinem staubigen Gefängnis.
Bereits drei Tage später klingelte es an unserer Haustür und ich konnte mein ganz eigenes gebundenes Exemplar des Buches in Empfang nehmen, um mich auf ein Neues und dieses Mal ungestört in der Lektüre zu verlieren.
Der Schatten des Windes ist ein Roman des spanischen Autoren Carlos Ruiz Zafón ( nachfolgend Zafó ), das 2001 in Spanien und 2003 in Deutschland erschien. Mit der Veröffentlichung des Buches Das Spiel des Engels ( 2008 ) wurde die in Barcelona spielende Handlung zu einem vierteiligen Epos erweitert, in dessen Zentrum der fiktive Ort Der Friedhof der vergessen Bücher stehen wird.
Der Friedhof der vergessen Bücher stellt in den Werken Der Schatten des Windes, Das Spiel des Engels und Der Gefangene des Himmels ( 2012 ) einen sicheren Hafen für all jene Bücher dar, die entweder der Vergessenheit oder der Vernichtung anheimgefallen sind. Es ist ein Labyrinth unschätzbaren Ausmaßes, das sich in Mitten Barcelonas befindet, und von dessen Existenz nur einige wenige Menschen wissen, um diesen Hort des Wissens zu schützen. Wiederfährt einem das Glück, dass man jemanden kennt, der einen an diesen geheimnisvollen Ort bringen kann, so entdeckt man einen zauberhaften Ort, an dem unzählige Bücher sämtlicher Epochen aufbewahrt werden. Aus dieser unsagbar wertvollen Katakombe des Wissens darf man sich bei seinem ersten Besuch ein Werk aussuchen, das man mehr oder weniger adoptiert und das man um jeden Preis vor Gefahren bewahren muss.
Der Spruch „Hüte es wie deinen Augapfel“ trifft hier wie die Faust auf's Auge.
Neben diesem immer wiederkehrenden Symbol tauchen in den einzelnen Werken der Der Friedhof der vergessenen Bücher-Saga auch noch weitere Handlungsgegenstände immer wieder auf - seien es nun Orte oder Figuren. Einer dieser Orte ist die Buchhandlung Sempere und Söhne, in die der Protagonist aus Der Schatten des Windes aufwächst.
Daniel ist noch ein junger Bursche, als er das erste Mal mit seinem Vater den Friedhof der vergessenen Bücher betritt, wo er über das Buch Der Schatten des Windes, geschrieben von Julián Carax, stolpert. Einer Eingebung entscheidet er sich für dieses Buch und nimmt es mit sich nach Hause, wo er sich in den Wirren einer düsteren und komplexen Handlung verliert.
Daniel, der mehr als angetan von dem Schatten des Windes ist, beschließt, auch die anderen Werke Carax' lesen zu wollen und stellt bei seinen kindlichen Nachforschungen fest, dass kaum einer mit den Namen Julian Carax etwas anfangen kann und dass die meisten seiner Werke entweder verschwunden oder vernichtet worden sind.
Im Laufe der Handlung verliert sich Daniel zwar immer wieder in den Wirren seines eigenen Alltags, doch verliert er darüber nie seine Neugier bezüglich Carax, so dass er sich schließlich systematisch auf die Spur des unbekannten Autoren macht und sich in den Stricken seiner Geschichte verliert.
Der Schatten des Windes ist ein historischer Roman, der in einem Barcelona nach dem zweiten Weltkrieg angesiedelt ist. Die eigentliche Handlung rund um Daniel und seiner Suche nach Carax kommt in Form eines Obertextes daher, von dem aus im Verlaufe der Handlung auf Rückblicke anderer Figuren zurückgegriffen wird. Diese Rückblicke kommen portionsweise daher und liefern dem Leser immer nur einige wenige, wohl ausgewählte Informationen, die ihn dazu verleiten lassen können, eigene Rückschlüsse bezüglich des Schicksals Carax' zu ziehen, die sich aber so geschickt in die eigentliche Handlung des Romanes einfügen, so dass sie gegen Ende der Lektüre zu einem einzigen roten Faden verschmelzen.
Es ist eine spannende Geschichte, die Zafón den Lesern mit Der Schatten des Windes auftischt, die zwar ihre Macken besitzt ( beispielsweise die kritisierbaren Frauenfiguren ), aber schlussendlich doch einen soliden und empfehlenswerten Romanen zurücklässt.
„ »Martín, was Sie jetzt sehen werde, dürfen sie niemandem erzählen, nicht einmal Vidal. Niemandem.«
Ich nickte, neugierig geworden durch die ernste, geheimniskrämerische Miene des Buchhändlers. Ich folgte ihm durch die enge Straße, bloß eine Scharte zwischen düsteren, baufälligen Häusern, die sich einander wie steinerne Weiden zuneigten, als wollten sie auf Dachhöhe die Öffnung zum Himmel verschließen. Wenig später gelangten wir vor ein großes Holztor, das aussah, als verschließe es eine alte, seit hundert Jahren auf dem Grund eines Stausees stehende Basilika. Sempere stieg die beiden Stufen zum Tor hinauf, ließ den Bronzeklopfer in Form eines grinsenden Teufelchens dreimal fallen und kam wieder zu mir zurück.
»Was Sie jetzt sehen werden, dürfen Sie ... «
»... niemandem erzählen. Nicht einmal Vidal. Niemandem.« “
( Carlos Ruiz Zafón: Das Spiel des Engels| Seite 175, Zeilen 12-28 )
Wo der Der Schatten des Windes durch Klarheit besticht und von sich aus die wesentlichen handlungsbezogenen Fragen des Lesers beantwortet, setzt Das Spiel des Engels vermehrt auf die Interpretationsgabe des Lesers und konfrontiert ihm mit einer Handlung, die man auf verschiedene Arten verstehen kann.
Grundsätzlich fällt die Handlung des zweiten Teils der Der Friedhof der vergessenen Bücher-Saga düsterer und fantastischer aus als der Erstling. In dessen Mittelpunkt steht der junge David Martín, der in einem düsteren Barcelona weit vor dem zweiten Weltkrieg aufwächst, und der dem Traum eines Tages Schriftsteller zu werden nachjagt.
Eines Tages gelingt es ihm in der Zeitung, für die er arbeitet, zu debütieren und gelangt zu etwas Ruf in der Welt der Literatur. Es sind kleine Geschichten, die er schreibt, und dennoch wird ein französischer Verleger namens Andreas Corelli auf ihn aufmerksam, der ihn aus dem Hintergrund beobachtet und wie eine Spinne in der Dunkelheit darauf wartet, ihm ein unschlagbares Angebot zu unterbreiten. Martín soll ein Buch für ihn schreiben, wofür ihm im Gegenzug sein sehnlichster Wunsch erfüllt werden wird.
Wo Der Schatten des Windes ein gutes Buch ist, ist Das Spiel des Engels ein unglaublich gutes Buch - auch wenn so manche Reaktion anderer Leser das Gegenteil andeuten.
Es ist ein Buch, das den Leser zum Interpretieren auffordert, denn so klar wie die Handlung auf den ersten Blick auch erscheinen mag, ist sie am Ende gar nicht. Nahtlos springt sie zwischen der Realität und der Fantasie hin und her, so dass man am Ende gar nicht mehr zwischen beiden zu differenzieren vermag und sich unweigerlich fragen muss, was wirklich ist und was nicht.
Zudem erscheint mir Das Spiel des Engels besser ausgearbeitet als Der Schatten des Windes, wo man eher an der Handlung aneckt, als beim Prequel. Doch trotz dessen ist auch der Der Schatten des Windes empfehlenswert, weswegen ich beide Romane offenherzigen Lesern nur ans Herz legen kann, während ich mich ein weiteres Mal mit dem Das Spiel des Engels, das ich unglaublich lieb gewonnen habe *g*, auseinandersetze, um so die Wartezeit bis zum Erscheinen des dritten Bandes zu überbrücken.
P.S: Hier ist er, Akade. <3