Leben für den Moment ist toll.
Nun, als ich deine Behauptung gelesen habe, dass der Mensch nur zum Zweck Regeln und Gesetze einhält, die andere ihm geben, musste ich direkt an das Moralentwicklungs-Modell von Lawrence Kohlberg denken (alle, die Pädagogik in der Oberstufe haben oder hatten, sollten schon einmal etwas davon gehört haben).
Im Folgenden fasse ich kurz (EDIT: oder auch ein wenig länger) zusammen, worum es dem amerikanischen Professor geht. Zunächst einmal sieht Kohlberg, dass sich moralisches Handeln (und genau darum geht es in diesem Thema hier) anhand von aufsteigenden Ebenen beschreiben lässt, denen unterschiedliche Beweggründe zugrunde liegen.
Kohlberg unterscheidet drei Ebenen: Die präkonventionelle, die konventionelle und die postkonventionelle Ebene. Jede dieser Ebenen ist noch einmal in je zwei Stufen unterteilt. Das klingt nach viel trockener und staubiger Theorie, darum werde ich das Ganze beispielhaft erläutern.
Der kleine Heinz (Dilemma-Freunde verstehen den Wink) wird geboren. Die Welt ist hell, grell und voller neuer Eindrücke. Was gut ist und was schlecht ist, erfährt der kleine Heinz direkt unmittelbar von der Mutter. Hat er schon einige Jahre seines jungen Lebens hinter sich, bekommt er etwas auf die Finger, wenn er an der Keksdose naschen war oder eben jenen Keks, wenn er tapfer drei Stunden Tantenbesuch ausgehalten hat. Das ist die erste Stufe. Heinz orientiert sich hier also an Autoritäten (seiner Mutter) und versucht Tadel zu vermeiden und Lob einzuheimsen.
Die zweite Stufe, die den schönen Beinamen »instrumentell-relativistisch« trägt, zeichnet sich dadurch aus, das Heinz (inzwischen älter) es geschafft hat, einen 10-€-Schein zu bekommen, indem er für seine Mutter den Rasen mäht. Instrumentell sind beide befriedigt worden. Die Mutter hat einen schönen Rasen, Heinz mehr Geld. Der Sinn von Gerechtigkeit ist tief mit dieser Stufe verwoben. Das Prinzip von »Eine Hand wäscht die andere« besitzt hier die Oberhand, kann aber schnell zu einem »Wie du mir, so ich dir« wechseln.
In der dritten Stufe (und hier sind wir auch schon in der konventionellen Ebene angelangt), ist Heinz darauf erpicht, Karla, seiner Klassenkameradin, zu gefallen. Es geht ihm gar nicht so sehr darum, dass sie mit ihm ausgeht, obwohl das natürlich toll wäre. Deswegen schenkt er ihr Blumen, versucht nett zu sein, und freut sich, wenn Karla sich freut. Er geht in eine stereotypische Rolle und findet in ihr Zustimmung.
Die vierte Stufe ist die, auf der Heinz, welcher jetzt schon mit Karla verheiratet ist (Junge, sind die heute schnell), nur wenig Geld verdient und nur mehr oder weniger über die Runden kommt. Jetzt passiert etwas ganz blödes. Karla erkrankt an einer schweren Blutkrankheit, die zwar geheilt werden kann, deren Behandlung aber dennoch verdammt teuer ist. Sie kostet soviel, dass Heinz es nicht bezahlen kann. Heinz geht zum Apotheker und fragt nach. Dieser sagt, er habe das Medikament vorätig, zeigt ihm die Flasche und wird - wegen eines Telefonats - nach hinten gerufen. Heinz sieht das Medikament, das für ihn unbezahlbar ist. Selbst wenn er alle seine Sachen verkaufen würde hätte er nicht annähernd genug Kohle, um seine Frau zu retten. Also, denkt sich Heinz betroffen, dass er nach Hause gehen und Karla erklären kann, dass es für sie keine Rettung mehr gibt. Hier orientiert sich Heinz an Gesetz und Ordnung, also dem, was der Gesetzgeber vorschreibt und hebt sich nicht über diese Ordnung. Er tritt also für diese Ordnung ein.
So, wir nähern uns der postkonventionellen Ebene. Natürlich wäre Heinz schon ziemlich blöd, wenn er sich das Medikament nicht unter den Nagel reißen würde - wann würde sich je wieder solch eine Situation bieten?
Leben für den Moment - au ja!
Heinz wird kritisch, stellt infrage, dass Medikamente nur privilegierten Menschen mit hohem Lebenseinkommen zugute kommen soll und entscheidet, dass es einen höheren Nutzen hat, wenn er es stiehlt - Gesetz hin Gesetz her. In der Philosophie spricht man hier vom Utilitarismus, der den Nutzen einer Handlung über den Schaden stellt, sollte dieser geringer sein als der Nutzen. Heinz wägt also kurzerhand ab und stiehlt das Medikament. Er agumentiert mit der Unantastbarkeit des menschlichen Lebens und rechtfertigt sein Handeln mit gesellschaftlich anerkannten Standards.
Nun könnte man meinen, dass Heinz genau so richtig gehandelt hat. Dass er durch Abwägen und Bewerten gerade mit seiner Tat etwas Gutes bewirkt hat. Ich will hier nicht widersprechen, dass das Retten eines Menschenlebens um seiner selbst Willen etwas Positives ist, dennoch gehen wir hier noch einmal ein wenig zurück.
Heinz stiehlt das Medikament und die Wirkung ist zu schwach, Karla muss, obwohl sie das Medikament bekommen hat, sterben. Der Apotheker, der für das Medikament bezahlt und einen Kredit aufgenommen hat, kann diesen nicht zurückzahlen. Ein Kunde, der ebenfalls an der Blutkrankheit leidet, kann dieses nun nicht bekommen und muss auch sterben. Die Spuren führen die Polizei zu Heinz. Dieser wird für den Raub bestraft und in ein Gefängnis gesperrt.
Auch wenn ich das Zukunftsszenario in recht düsteren Farben male, so soll doch ersichtlich sein, dass es mir darum geht, dass man nie wissen kann, wie der Nutzen oder Schaden sein wird. Man könnte nun vorhalten, dass Heinz aus nobler Absicht gehandelt hat, doch war seine Absicht doch ebenso bedingt durch seine eigene Wertvorstellung wie durch seine persönliche Beziehung zu Karla.
Und genau hier bin ich wieder an dem Punkt, an dem ich es nicht zulassen möchte, dass ich in ein großes nihilistisches Loch falle, in dem alles Falsch oder Richtig sein kann.
Und da gibt es eine große Hilfe. Neben der Moral, die normative Sätze an uns Menschen zu geben versucht, haben wir noch die Ethik, die sich insofern von der Moral unterscheidet, als dass sie kritisch mit dem umgeht, was die Moral sagt. Ich vergleiche das gerne mit einem Schmied. Der Schmied ist die Ethik und der Hammer die Moral. Die Moral ist also ein Werkzeug, doch allein der Schmied weiß, wie man mit diesem Werkzeug umzugehen hat, da man sowohl schönste Kunstwerke als auch tödliche Waffen schmieden kann, goro.
Wer ein moralisches System missbraucht oder schändlich benutzt, um damit Ziele zu erreichen, die möglicherweise nützlich oder hilfreich für eine Interessengruppe sind *hust Kirche hust*, verhält sich meiner Meinung nach nicht viel besser als jemand, der sich gegen solche Moralsysteme stellt, um egoistische Zwecke zu verfolgen. Wenn der Zweck die Mittel heiligen soll, dann ist bei einem noblem Ziel also wieder alles erlaubt?
Nein, denn genau da setzt die Ethik an. Sie verlangt Gutes um des Guten willen. Häufig wird - und damit kommen wir auf die sechste Stufe des Kohlberg-Modells - von sogenannten universalen ethischen Prinzipien gesprochen. Und hier meine ich keine Regeln, wie die zehn Gebote oder die acht »Mir wär’s wirklich lieber Du würdest ... « des fliegenden Spaghettimonsters.
Jetzt ist natürlich die Frage, wie soll man an solche universalen Gesetze herankommen, wenn doch sowieso alles keinen Sinn hat? Kohlberg beruft sich hier auf logische Extension, Universalität und Konsistenz. Und hier schneidet sich dieses Modell mit dem weitaus umfassendereren Systems von Immanuel Kant, dessen Darlegung wohl diesen Post sprengen würde.
Im Kern der Aussage beschreibt Kant in seiner »Grundlegung der Metaphysik der Sitten« die Herleitung des kategorischen Imperatives. Keine leichte Lektüre, aber lohnenswert. Dieser kategorische (also auf jede Situation zutreffende) Imperativ (Satz in Befehlsform) lautet: »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.«
Maximen sind selbstgesetzte Handlungsregeln, die ein Wollen ausdrücken. Eine Maxime wäre zum Beispiel: Ich kann nicht wollen, dass jemand jemand anderen bestiehlt (um beim Heinz-Dilemma zu bleiben).
Dieses prinzipielle, unmittelbare Wollen ist etwas anderes, als der mittelbare Wille. Heinz will das Medikament stehlen, kann aber nicht wollen, dass es ein allgemeines Gesetz gibt, dass Diebstahl legalisiert, da sonst die Hölle los wäre. Jeder könnte jedem etwas stehlen und es gäbe kein Recht auf Eigentum mehr. Es würde eine, nicht mehr durch Gerechtigkeit, sondern durch das Gesetz des Stärkeren bestimmte Welt entstehen, die zwar schön natürlich aber gegen die reine Vernunft des Menschen arbeitet. Wobei ich mich gerade frage, ob wir gar nicht mal so weit davon entfernt sind ...
Soviel von Kohlberg. Habermas hat das ganze Modell noch einmal erweitert und eine siebte Stufe hinzugefügt, nach der durch praktische Diskurse universale Prinzipien gefunden werden sollen (Menschenrechte spielen in dieser Liga).
Um auf die anderen Fragen zurückzukommen. Ich glaube, dass den Moment zu leben auch immer etwas mit der eigenen Wertvorstellung zu tun hat. Wer täglich sein Leben aufschiebt und alles für später plant, der vergisst, dass das hier und jetzt Wunder bereithält. Und ich meine hier keine Wunder, bei denen ein Typ mit Sandalen an Füßen übers Wasser läuft. Ich dachte dabei eher an die Schönheit der Natur, die Intensität der Gefühle und die Freude, die ein Sonnenstrahl nach einem langen Regen auslösen kann. Das hat viel mit Genügsamkeit zu tun. Wer in den kleinen Dingen dieser Welt das Positive sieht und nicht so sehr das Streben wonach auch immer, welches ohne Zweifel auch wichtig ist, in den Vordergrund stellt, hat meiner Meinung nach schon viel mehr Sinn und Sinnhaftigkeit gewonnen, als jemand, der den größten Teil seines Lebens nur als Mittel zum Zweck sieht.
Wie ich schon im »Leben nach dem Tod«-Thread anmerkte, bin ich der Auffassung, dass Bewusstsein etwas ist, dass sich ganz von selbst bei einer gewissen Komplexität bildet. Das wir mit diesem Bewusstsein auch über einen Verstand verfügen, der uns die Vernunft zeigen kann, halte ich für eine überaus gerissene Laune der Natur. Ob wir uns da vom Tier unterscheiden, weiß ich nicht. Möglich, dass wir zu viel darüber nachdenken, was ist, war und wird. Aber dennoch wäre mein Leben um einiges ärmer, könnte ich nicht diese Möglichkeiten und Alternativen in meinem Geist durchspielen. Spielen an sich ist hier dann auch wieder ein Schlagwort. Ich glaube, wenn wir spielen, leben wir den Moment. Wenn wir uns nicht der Konsequenzen bewusst sein müssen, sondern bloß das Spiel spielen.
Und ich glaube jeder Zelda-Spieler weiß was ich meine. Es kommt nicht darauf an, dass ich Ganni möglichst schnell in die Ecke trete, sondern es ist das Erleben der Story, das wiederholte Scheitern am Endgegner oder die Freude, wenn man etwas Neues entdeckt hat, die die Spiele so spielenswert machen. Klar hat man auch hier Regeln, ebenso wie in Spielen, deren Regeln man selbst bestimmen kann, wie hier im RPG, wo die Freiheit, dass zu tun, was man will, noch weniger eingeschränkt ist. Also lebe ich in jedem Moment, den ich aus dem Leben meines steinhäutigen Alter Egos beschreibe, genau diesen Moment still für mich selbst.
Tut mir Leid Leute, aber irgendwie überkommt mich bei so etwas immer der Schreibwahn. Wer bis hierher durchgehalten hat, bekommt von mir ein gratis Schwert^^
Soviel von mir, goro.